Die Kreis-Hypothese der Aufwandsschätzung: Multipliziere Deine Schätzung mit Pi

Ninja mit Schild, auf dem ein Pi-Symbol abgebildet ist zur AufwandsschätzungImmer wieder werde ich gefragt, wie wir das in unserem langjährigen Medizintechnik-Projekt mit der Aufwandsschätzung machen.
Die Antwort: natürlich professionell, indem wir alle Einflussfaktoren gründlich analysieren und größere Aufgaben in kleine Häppchen zerlegen, die einzeln nach der PERT-Methode (2) geschätzt werden. Das funktioniert sehr gut, wenn man viel Zeit rein steckt.

Ich biete den Fragenden dann immer unsere Kalkulationstabelle an, aber oft hätten sie gerne etwas einfacheres, das schneller geht. Zum Beispiel fürs initiale Befüllen eines neuen Backlogs für eine erste grobe Priorisierung. Auch damit kann ich dienen …

Die einfache Heuristik

Vor einigen Jahren las ich einen lustigen Artikel über Aufwandsschätzungen: „The circular estimation conjecture: Always multiply your estimates by Pi!“ (1)

Zunächst schmunzelte ich nur über die einfache Heuristik, alle Schätzungen mit Pi zu multiplizieren. Ich musste aber im Laufe der Zeit immer wieder daran denken: Oft gab es eine vorläufige Schätzung, die dann in ausführlicher Analyse verfeinert wurde. Das Ergebnis war oft drei- bis viermal so hoch wie die ursprüngliche, vorläufige Schätzung. Und es war natürlich immer näher an der Realität.

Wenn die Schätzung mal schnell gehen muss, ist die einfache Heuristik also: grob schätzen und mit 3,14 multiplizieren, fertig. 😉

Die mathematische Herleitung

Aber wie kommt man denn eigentlich ausgerechnet auf Pi? Dieser Blogbeitrag (1) liefert dafür eine schöne mathematische Herleitung. Und weil Mathematik immer gut ist, will ich das hier noch einmal auf Deutsch und mit hochmoderner ASCII-Grafik darstellen:

  • Was Du geplant hast:
    # A --------------> B
    
  • Was Du eigentlich machen musst, aber erst unterwegs herausfindest:
    #                   B'
    # A ----------------*----------------> B
    
  • Dein tatsächlicher Weg, nach einigen Irrtümern, lehrreichen Fehlversuchen, ausprobierten Varianten und anderen Hindernissen – eine schöne Schlangenlinie / Sinuskurve:
    #       _ --- _ 
    #     /         \
    #   /             \ B'               
    # A . . . . . . . . * . . . . . . . . B
    #                    \               ^
    #                      \           /
    #                        `  ___  '
    
  • Wie lange braucht man also von A nach B?
    Zeichnen wir die Sinuskurve als Kreis: Der tatsächliche Aufwand entspricht dem Kreisumfang U, der ursprünglich geplante ist der Kreisdurchmesser d:

    #       _ --- _ 
    #     /         \
    #   /      d      \ B'                
    # A --------------- * . . . . . . . . B
    #   \             /
    #     \         /
    #       ` --- ´    
    #           U = Pi * d    - Q.E.D.
    
  • Denn: Was auch immer Du am Anfang planst, wenn Du mit Analyse, Design, Diskussionen, Prototypen, Fehlschlägen, Testen, Anforderungsüberarbeitung und all den anderen Unwägbarkeiten des kreativen Prozesses durch bist, wirst Du Pi-mal länger gebraucht haben, als ursprünglich gedacht.

Im Ernst

Die Sache mit Pi ist eher lustig gemeint. Aber dennoch – auch meine eigene Erfahrung aus etlichen Jahren Software Engineering zeigt: Trotz Verwendung von „echter“ Schätzmethodik (z.B. „PERT“ (2)) sollte man immer einen Faktor drauf rechnen.
Der darf vielleicht auch kleiner sein als Pi, z.B. 2 oder Wurzel aus 2 oder die goldene Zahl Phi (ca. 1,6) – nur nie kleiner als 1.
Je nach dem, wie sicher man sich seiner Sache ist.

Unser Director Product & Technology und Stages-Initiator Dr. Erich Meier hat mir vor noch mehr Jahren seine heute immer noch bewährte Multiplikationsheuristik genannt:

  • Alles bekannt: Faktor 1 (oder doch lieber Wurzel-2, weil doch nie alles klar ist.)
  • Anforderungen klar, aber technologische Fragen offen : Faktor 2
  • Anforderungen nicht ganz klar (aber technologisch alles klar): Faktor 3
  • Unsicherheiten bei Anforderungen und Technologie: Faktor 4

Die Anforderungen sind meistens nicht 100% sicher, auch wenn man meint, es wäre so. Zusätzlich stellt die Technologie dem Menschen immer gerne ein Bein. Daher ist man mit dem Faktor Pi zwischen 3 und 4 sehr gut bedient.

Fazit

Gute Aufwandsschätzungen sind kein Hexenwerk, aber sie kosten sehr viel Zeit, weil man alle Einflussfaktoren berücksichtigen und alle offenen Fragen klären muss.

Für eine grobe erste Schätzung darf es auch mal schnell gehen: grob über den Daumen peilen und mit 3,14 multiplizieren, also „Pi mal Daumen“. 😉

 

Mehr Informationen zu ähnlichen Themen findest du hier in unseren Kompetenzfeldern.

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(1)
Always multiply your estimates by Pi

Warum der Link zum „Multiply with Pi“-Artikel auf web.archive.org zeigt? Weil die Seite www.altdevblogaday.com nicht mehr verfügbar ist. Zum Glück gibt es die „Wayback machine“ von der gemeinnützigen Organisation The Internet Archive, die genau für solche Fälle Abhilfe schafft. Siehe auch
Why I Link to WayBackMachine Instead of Original Site

(2) PERT: Drei-Zeiten-Methode

(3) weitere Schätzmethoden: https://en.wikipedia.org/wiki/Estimation_%28project_management%29